by Till Magnus Steiner, Die Tagespost
Bis heute gibt es Werke des bedeutenden Kirchenlehrers Thomas von Aquin, die niemals in eine moderne Sprache übersetzt wurden“, mit dieser Feststellung beginnt Christophe Rico gegenüber der „Tagespost“ seine Erklärung, warum er 2011 in Jerusalem – nicht weit entfernt von den Heiligen Stätten der Christenheit – mit befreundeten Altphilologen das Polis-Institut gegründet hat. „Heute sind die meisten Menschen sozusagen abgetrennt von den grundlegenden Texten der westlichen Zivilisation aus den Mittelmeerkulturen.“ Er ist Professor für Linguistik und Griechisch an der Universität in Straßburg und erinnert sich, wie er selbst, nachdem er in der Schule und dann an der Universität Griechisch gelernt hatte, und selbst noch nach seiner Doktorarbeit nur mit Hilfe eines Wörterbuches eine Seite aus einem Werk Platos übersetzen konnte. „
Das Übersetzen hat mich damals viel Zeit gekostet und immer noch gab es viele Fehler. Das, was ich gelernt hatte, war nicht effizient.“ Heute liest und spricht er die antiken Sprachen fließend – es sind für ihn lebendige Sprachen geworden, die er und seine Kollegen am Polis-Institut als gesprochene Sprachen unterrichten. Ein Sprachkurs, den er 1992 in Israel besuchte, veränderte seine Sicht auf das Lernen sogenannter toten Sprachen. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Zionismus im Angesicht des in Europa aufkommenden Nationalismus begannen Juden das Hebräisch, das fast nur noch in der Liturgie verwendet wurde, als Alltagssprache wiederzubeleben.
„Salve ! Mihi nomen est Christophorus. Quid nomen tibi est?“
Heute ist das moderne Hebräisch, genannt Ivrit, die Muttersprache von Millionen Israelis und Juden. „Ich besuchte einen Ulpan – so werden hier die Sprachschulen in Israel für Hebräisch genannt. Ich lernte das heute in Israel gesprochene Neuhebräisch und das befähigte mich zugleich dazu, auch die auf Althebräisch verfassten Schriften des Alten Testaments zu lesen.“ Dies verdeutlichte ihm, dass die traditionellen, auf die Grammatik ausgerichteten Lernmethoden in der Altphilologie einen Denkfehler beinhalteten.
„Salve ! Mihi nomen est Christophorus. Quid nomen tibi est?“, so oder ähnlich beginnt im Polis-Institut die erste Stunde des Latein-Sprachkurses. Und es folgt keine Übersetzung, keine grammatische Erklärung und kein Wort in einer der modernen Sprachen. Im Klassenraum tauchen die Lernenden völlig in die Sprachwelt ein, die sie lernen wollen. Egal ob Latein, Griechisch, Syrisch, Koptisch, Althebräisch oder auch die modernen semitischen Sprachen, die man dort lernen kann – sie alle werden gemäß der Immersionsmethode unterrichtet. Der Lernende wird völlig in das fremdsprachige Umfeld hineinversetzt und erwirbt sozusagen wie ein Kind durch Hören, Nachahmen und den Selbstversuch die gewünschte Sprache.
„Wenn man Kinder beobachtet, sieht man, dass sie am Anfang ganz simple Wörter, wie ,Mama‘, ,Papa‘ und ,Hallo‘ lernen. Dann folgt die Anwendung von Imperativen, Fragewörtern und dann folgen deskriptive Sätze, wie ,das ist ein Haus‘“, beginnt Christophe Rico die Idee hinter der im Polis-Institut angewendeten Methoden zu beschreiben. Er und seine Kollegen unterrichten nicht nur, sondern erforschen auch die Lernprozesse, um einen natürlichen und damit erfolgreichen Spracherwerb zu ermöglichen. Es gibt viele Methoden, die in verschiedenen Lernsituation von Vorteil sind. Eine Methode, die Polis eigen ist und dort entwickelt wurde, ist „Living Sequential Expression“. „Wir folgen darin der Idee des französischen Sprachlehrers François Gouin aus dem 19. Jahrhundert“, beginnt er diese Methode zu erklären, in der die Verbindung zwischen Handlungen, die von den Studenten ausgeführt werden, besondere Beachtung findet.
„Zuerst stehe ich auf, dann kann ich gehen, dann kann ich anhalten, dann kann ich mich setzen. Wenn es eine Kontinuität gibt, wenn es eine natürliche Verbindung zwischen diesen Handlungen gibt, so dass eine Kette oder eine sequentielle Reihe gebildet wird, werde ich die mit dieser Handlungskette verbundenen Worte besser verinnerlichen.“ Diese Art des Lernens ist an dem alltäglichen Leben des Menschen ausgerichtet. „Alle Aktivitäten des Menschen oder der Natur können durch ,Living Sequential Expression‘ erzählt und leicht verinnerlicht werden.“ Durch die sichtbaren alltäglichen Handlungen entwickele sich somit die Fähigkeit des Erzählens. „Wenn man eine Sprache lernt, dann lernt man Sprechen – das heißt die Fähigkeit zum Dialog. Der nächste Schritt ist es, etwas erzählen zu können – sei es ein Witz oder was ich gestern getan habe.
Und genau dies ermöglicht unsere Methode in einem direkten Erfahrungskontext zu lernen, um dann zum nächsten Schritt zu gelangen: die Fähigkeit eine Rede halten zu können – was ja selbst manchen Muttersprachlern schwerfällt.“ Wie Christophe Rico jedoch selbst betont, gibt es nicht die eine richtige Methode für alle. „Menschen verschiedener Muttersprachen brauchen manchmal unterschiedliche Methoden. Auch bedarf es, um in den Sprachen lesen und schreiben zu lernen, anderer Methoden. Es ist immer ein Fehler, eine Methode absolut zu setzen.“ So kommen am Polis-Institut auch sogenannte Storytelling- und -building-Methoden und andere behavioristischen Sprachlehrmethoden zum Einsatz.
"Hier arbeiten Juden, Christen und Muslime"
In den letzten zwanzig Jahren wurden zunehmend Institute gegründet, die die antiken Sprachen durch direkte Immersion unterrichten. Unter ihnen hat das Polis-Institut eine besondere Stellung nicht nur aufgrund der eigenen entwickelten Methoden und der Erforschung von Lernprozessen, sondern auch der vor Ort betriebenen altphilologischen Forschung. So arbeitet Christophe Rico mit seinen Kollegen zum Beispiel an einem Lehrbuch für Koptisch und einem neuen altgriechischen Wörterbuch.
Das Polis-Institut trägt sich durch die für die Forschung eingeworbenen Mittel und Spenden sowie die Kursgebühren. „Es handelt sich nicht um eine katholische Einrichtung, sondern rechtlich um eine in Israel gegründete Organisation“, definiert Christophe Rico seine Einrichtung. Er selbst ist Laie der Prälatur vom Heiligen Kreuz und Opus Dei. „Die dahinterstehende Idee ist katholisch inspiriert, aber wir arbeiten hier zusammen als Juden, Christen und Muslime und widmen uns gemeinsam den Sprachen. Und unsere Studenten kommen aus den verschiedensten nationalen und religiösen Kontexten.“ Auch die angebotenen Kurse richten sich an verschiedene Zielgruppen. Es gibt sowohl Sommerintensivkurse in den antiken Sprachen und in den modernen semitischen Sprachen Arabisch und Hebräisch, die für alle Interessierten offenstehen, als auch über zwei Jahre dauernde Studiengänge.
In Kooperation mit der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, der Internationalen Universität Kataloniens in Barcelona und der Universität von Navarra in Pamplona können Studenten in zwei Jahren einen Magister Artium in Altphilologie oder in den Sprachen des Nahen Ostens erlangen. „Wir hoffen, dass unsere Studiengänge im Herbst wieder ganz normal beginnen können. Möge die durch die Ausbreitung des Coronavirus entstandene Krise bald überstanden sein. Momentan unterrichten wir unsere Kurse online und falls nötig werden wir auch unsere Sommerintensivkurse per Videostreaming anbieten“, sagt Christophe Rico am Ende des Gesprächs mit der „Tagespost“ noch. Die antiken und semitischen Sprachen haben schon viele Epidemien überstanden und sind nie völlig untergegangen.
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